März 2023: Freiwilliges Engagement weltweit: Gut gemeint ≠ gut gemacht!?

„Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, verschwendest du deine Zeit, aber wenn du gekommen bist, weil deine Befreiung mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten.“ So beschrieb in den 1970ern eine Gruppe Indigener in Australien ihr Unwohlsein mit dem Konzept „Helfen“.

Aber warum kann das Engagieren für Schwächere, Benachteiligte oder Leidende problematisch sein? Erst recht, wenn Menschen dafür viel Aufwand betreiben? Jedes Jahr reisen beispielsweise über das weltwärts-Programm 3.500 junge Freiwillige aus Deutschland in den Globalen Süden. Für ein Jahr arbeiten sie in emeinnützigen Organisationen wie ländlichen Schulen oder Kinderheimen – und das meist mit viel persönlichem Einsatz und bewundernswertem Idealismus.

Viele erfahrene Beteiligte zweifeln jedoch gemeinsam mit zahlreichen Wissenschaftler*innen wie Benjamin Haas oder Dr. Kristina Kontzi an der weit erbreiteten Überzeugung, dass „Helfen“ als Freiwillige im Globalen Süden stets unbedenklich ist: Die Kritik bezieht sich dabei meist auf das Problem der unterschiedlichen Machtverteilung: Egal, wie sehr sich insbesondere weiße Freiwillige auch bemühen: Eine als gleichberechtigt wahrgenommene Begegnung im Globalen Süden erzählt in fast allen Fällen „das Märchen von der Augenhöhe“. In der Broschüre „Wer anderen einen Brunnen gräbt“ werden zentrale Fragen aufgeworfen: Wer hat Zugang zu Freiwilligendiensten? Wer fühlt sich angesprochen? Wer ist in der Position zu „helfen“? Und welche kolonialen Kontinuitäten gibt es? Der ASC Göttingen verweist treffend darauf, dass „weltwärts ein Lerndienst für junge Menschen ist. [...] Wer sich als europäische*r Retter*in hinaus in die Welt gezogen fühlt, ist hier fehl am Platz. weltwärts bietet vielmehr die Chance [...] eine neue Perspektive auf das Leben zu erfahren. Mit diesem neugewonnenen Verständnis kann eine neue Achtung vor Vielfalt entstehen.“ Eindrücklich illustrieren dies die kurzen, humorvollen Videoclips der Initiative
RADI-AID“: Dort werden Stereotype über Afrika ad-absurdum geführt, in einer Quizshow eine Volunteer-Gewinnerin gekürt und im Kampagnenclip „Africa for
Norway“ werden diskriminierende Charity-Songs verspottet.

Diese und viele weitere Perspektiven auf internationale Freiwilligendienste – u.a. von glokal, den Zugvögeln, Brückenwind und Global Match - präsentieren das EPIZ und Mitstreiter*innen im Rahmen des in Göttingen stattfindenden Jubiläumsfestivals von weltwärts am 1. und 2. Juni am Jahnstadion. Es geht dabei nicht darum, die Einsätze von Freiwilligen zu verdammen, sondern sie inklusiver, machtkritischer und wirkungsvoller zu machen – wie es u.a. ein aktuelles Rahmenpapier vorschlägt: Hin zu einer „weltweiten Bewegung von Freiwilligen, die sich effektiv für eine Welt einsetzen, in der niemand zurückgelassen wird.“ (International Forum for Volunteering in Development)

Einen verbindenden März wünschen Chris Herrwig und das EPIZ-Team

Februar 2023: Gemeinwohlorientiert, empathisch, global solidarisch: Das südniedersächsische „Pluriversum“ wächst und gedeiht

„In die Welt, die wir wollen, passt jede*r. In die Welt, die wir wollen, passen viele Welten.“ - So wie die Zapatist*innen setzen sich viele für eine „pluralistische, tolerante, integrative, demokratische, gerechte, freie und neue Gesellschaft“ (4. Declaration of the Lacandona Jungle) weltweit ein.

Dazu gehören auch die Gastgebenden einer zapatistischen Delegation in Göttingen im vergangenen Jahr: Unter Anderem beim Roten Buchladen, dem Klimacamp, im JuZi und in der OM10 wurden Visionen für ein Gutes Leben für alle diskutiert. Das diese inspirierenden Zukunftserzählungen nötig sind, zeigt sich immer wieder: Besonders eindrucksvoll beschreiben es zahlreiche Wissenschaftler*innen, welche die Welt in einer Polykrise (Mehrfachkrise) sehen.

Ähnlich sehen es auch die Herausgeber*innen des Buches „Pluriverse“: Aus ihrer Sicht braucht es einen grundlegenden kulturellen Wandel hin zu empathischen Beziehungen zwischen Menschen und Gesellschaften sowie Lebensweisen, die im Einklang mit der Natur stehen. Dafür stehen auch die Anhänger*innen von Philosophien wie dem Ubuntu aus Südafrika oder dem Swaraj aus Indien. Generell gilt bei Unterstützer*innen der populärer werdenden wissenschaftlichen Denkschule „Post-Development“: Es braucht keine alternative Entwicklung, sondern Alternativen zu Entwicklung. Dazu gehört die Zuwendung zu nichtwestlichen Werten, Perspektiven und Praktiken.

Auf dem Weg dorthin müssen wir, wie Prof. Evan Barba unterstreicht, Selbstreflexion betreiben. Dazu zählt, dass wir uns um eine Kritik- und Feedbackkultur bemühen und erforschen, mit welchen „Brillen“ wir auf die Welt schauen. So können wir Voreingenommenheiten aufdecken, diese „auspacken“ und an Veränderungen arbeiten sowie Designer*innen für Transformation werden.

Auf derlei Reisen haben sich auch in Südniedersachsen schon zahlreiche Einzelpersonen, aber auch Gruppen und Initiativen gemacht. Wer dazu zählen könnte, wollen wir gemeinsam herausfinden: Beim Workshop zum Pluriversum im April sind alle herzlich willkommen, die sich mit uns auf die Suche nach Wegen hin zu ökologischeren, gerechteren und sozialeren Welten machen möchten.

Um bis dahin nicht in der Theorie zu bleiben, sondern praktisch Kulturwandel anzustoßen, singen wir mit Judith Holofernes in der heimischen Hängematte: „Danke, ich hab schon genug genug genug!

Chris Herrwig und das EPIZ-Team

Januar 2023: Jin, Jiyan, Azadî! – Im Iran, in Rojava und darüber hinaus

Am 16.09.2022 wurde die kurdische Iranerin Jîna Amīnī von der Sittenpolizei festgenommen und starb später an den Folgen von Polizeigewalt. Dies löste eine weltweite Protestwelle aus, an der sich auch viele Menschen in Göttingen beteiligen. Der begleitende Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) erhält seitdem weltweit Aufmerksamkeit. Er kommt aus der kurdischen Frauenbewegung und ist eng verknüpft mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Sie kämpft für Kurd*innen, Assyrer*innen, Aramär*innen und Yezid*innen gegen Kriege, Ausbeutungen und Verfolgungen durch die Regierungen Irans, Iraks, der Türkei und Syriens.

2023 jährt sich die Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne zum hundertsten Mal, welcher die Spaltung des kurdischen Siedlungsgebiets besiegelte. Der anti-kurdische Rassismus brachte jedoch auch eine Freiheitsbewegung hervor, die während des Arabischen Frühlings zu einer Revolution führte: Das neue Gesellschaftsmodell, unter Anderem praktiziert in der Region Rojava, beruht auf den Prinzipen der Frauenbefreiung, des Pluralismus, direkter Basisdemokratie und Ökologie. Dagegen führt die Türkei seit Jahren einen völkerrechtswidrigen Krieg (wie auch der Bundestag bestätigt), der sich aktuell wieder zuspitzt: Zahlreichen Berichten nach gibt es Hinweise auf den Einsatz chemischer Waffen. Insbesondere führt die Türkei auch wieder einen Angriffskrieg auf Rojava: Dieser wird von türkischer Seite als Antwort auf ein Attentat in Istanbul am 13.11. dargestellt, für das schon kurz nach dem Anschlag die PKK verantwortlich gemacht wurde. Diese distanzierte sich jedoch sehr schnell vom Anschlag und die FAZ bezeichnet die Schuldzuweisung als seltsam.

Wir fragen uns: Warum verurteilen wir den Krieg Russlands, kaum aber den der Türkei? Bevor Deutschland sich mit einer feministischen Außenpolitik schmücken kann, muss die Regierung auf die Einhaltung des Völkerrechts pochen. Sie muss sich gegen die Angriffe des NATO-Partners sowie die Rüstungsexporte dorthin stellen und für eine friedliche Lösung der kurdischen Fragen eintreten. Dabei haben auch wir als Zivilgesellschaft die Verantwortung, die Zusammenhänge zwischen derlei autoritären Regimen und der EU sowie der NATO zu ergründen. Solidarität heißt hier: Lokale, nationale und globale Kämpfe zusammen zu denken und miteinander zu verbinden.

Auch in Südniedersachen gibt es einige Gruppen und Initiativen, die das tun: Die in Göttingen ansässige Gesellschaft für bedrohte Völker setzt sich für die Aufhebung des PKK-Verbots ein, an dem seit 2018 auch ein EU-Gericht Zweifel hat. Außerdem engagiert sich das FlüchtlingsCafé Göttingen zusammen mit weiteren Gruppen rund um das Hausprojekt OM10 für transnationale Solidarität. In Anbetracht der komplexen globalen Verstrickungen erhoffen und erarbeiten wir uns ein zuversichtliches Jahr 2023: Bei uns, im Iran, in Kurdistan und überall: Jin, Jiyan, Azadî!

Sophie Paulmann und das EPIZ-Team

Dezember 2022: Zu den Wurzeln unserer Bedürfnisse – in Südniedersachsen und überall

Schon oft haben wir von weniger Konsum, mehr teilen, mehr reparieren, mehr lokale Bedürfnisbefriedigung, „Degrowth“ und so weiter gehört, gelesen, philosophiert. Doch der diesjährige Dezember verdeutlicht einmal mehr systemische Widersprüche: Bei stark steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen wirkt der weihnachtliche Fokus auf Konsum erst recht Fehl am Platz.


„Ein Milliardär ist so klimaschädlich wie eine Million Menschen“ – so die letzte Oxfam-Studie. Sie verdeutlicht, dass wir politische Lösungen brauchen. Gleichzeitig müssen wir konsumorientierte Lebensstile, insbesondere von uns wohlhabenden Menschen im Globalen Norden, grundlegend in Frage stellen: Es gibt nachhaltigere Wege zur Bedürfnisbefriedigung als solche, die mit Flugreisen, SUVs und Luxusvillen zusammen hängen.


Dem schließt sich auch die Seebrücke-Bewegung an, die in ihrem letzten Newsletter schreibt: „Gerade in angespannten Zeiten sind kleine Gesten von Freundschaft und gegenseitiger Unterstützung […] viel wichtiger als die groß inszenierten Rabattschlachten in den Läden und den Onlineshops am Ende des Jahres.“ Das passt in den Zeitgeist: Laut dem „Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution“, verfasst vom in Göttingen habilitierten Prof. Klaus Dörre, braucht es eine deutlich veränderte Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur, die feministische, ökologische und indigene Ansätze miteinbezieht. Dem pflichtet auch die Transformationsforscherin Maja Göpel bei. Sie unterstreicht, dass wir ran müssen an die Wurzeln der Probleme: Dazu sollten wir die uns umgebenden Systeme ganzheitlich betrachten, denn „wir können auch anders.“ Sie schlägt vor, uns wieder mehr mit der Frage zu beschäftigen: Was macht uns und andere wirklich glücklich?


Alles, außer lieblose Geschenke! Besuche!? Zeit füreinander!? Zuwendung!? Inspirationen gibt es bei Oxfam’s „Geschenke, die Gutes tun“ und die Seebrücke (von der es tolle Gruppen in Einbeck, Göttingen, Holzminden und im Harz gibt) empfiehlt „Spende statt Geschenke“.

Warum? Darum: „So düster die drohende Gefahr einer Klimakatastrophe über uns schwebt, so hell kann die Freude darüber strahlen, dieser Prognose zu trotzen und eine Zukunft zu schaffen, in der die Menschheit wieder atmen, sicher sein, leben kann. Diese Freude, die Lust auf Veränderung, auf das Bauen einer neuen Gesellschaft [wird] angetrieben von all jenen, die eine Idee haben, wo entlang wir gehen müssen.“ (Institut Solidarische Moderne)

Werden wir Teil des Wandels oder verstärken wir angesichts der multiplen Krisen unser Engagement!

Chris Herrwig und das EPIZ-Team

November 2022: Um wen geht es? Schauen wir in den Spiegel!

Menschenrechtsverletzungen in Katar, steigender CO2-Ausstoss in Indien und China, Wahlsiege von (Post-)Faschist*innen in Italien und Schweden: Es fällt leicht Probleme nicht bei uns zu suchen. Doch eine kleine Übung verdeutlicht, dass der Fokus auf „Andere“ viel über uns selbst aussagt: Während wir mit dem Zeigefinger auf Andere deuten sind drei Finger auf uns gerichtet.

Externalisierung“ nennt die Wissenschaft dieses Phänomen: Die Verantwortung wird nicht bei sich selbst, sondern außerhalb der eigenen Einflusssphäre gesucht. Eine prima Strategie, um die eigene Verwicklung zu verstecken und sich keine Gedanken über mögliche Handlungsmöglichkeiten machen zu müssen. Es ist bequem sich lustig zu machen über Franz Beckenbauer, der auf den WM-Baustellen „keinen einzigen Sklaven gesehen hat.“ Oder über Uli Hoeneß, der auf Kritik reagierte mit: „Das ist der Fußballclub Bayern München und nicht die Generalversammlung von Amnesty International!“

Nur: Denken wir beim Tanken mit Öl aus Katar an die Berichte diverser Menschenrechtsorgas und verkneifen uns das Fahren? Erinnern wir uns an die Reportagen zahlreicher Journalist*innen zu den vielen Todesfällen während wir uns die WM-Spiele anschauen, die in den dafür verantwortlichen Stadien ausgetragen werden? Schalten wir ab? Schreiben wir Protestbriefe an die Verantwortlichen?

Kognitive Dissonanz“ führt zu oftmals großen Lücken: Zwischen unserm Wissen darum, was gut und richtig für mich, meine Mitmenschen und die Umwelt wäre und meinen realen Verhaltensweisen. Dank unserer globalisierten und komplexen Welt verstecken sich die Folgen unseres Handeln meist recht gut, da sie an entfernten Orten auftreten, zeitlich erst viel später sichtbar werden (wie beim Klimawandel) oder Wirkungen kaum exakt zu meinen Aktivitäten zuzuordnen sind. So lebt es sich leicht mit der Textzeile von Dota Kehr im Ohr: „Immer die Ander'n - wie könnt' es anders sein.“

Wir sind da ganz bei der Band „Die Ärzte“: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist wie sie ist, es wär’ nur deine Schuld wenn sie so bleibt!“ - Dem würde wohl auch der Göttinger Menschenrechtler Dr. Kamal Sido zustimmen. Er verweist auf die „vielen Gegenangebote an Veranstaltungen, wo sich kritisch mit der WM auseinandergesetzt werden kann.“ Dabei sind auch viele Bars und Kneipen, die statt Public Viewing andere Aktivitäten ins Programm nehmen. Auf der WM-Boykott-Karte des Katapult-Magazins findet sich aus der Region nur der Clausthaler „Kellerclub im Stuz“. Dort gibt es, wie bei vielen anderen Kneipen deutschlandweit auch, „Quartett statt Katar.“

Wie in den Toiletten der Kneipen hängt aktuell auch auf dem Gelände  des Natur-Erlebniszentrum Gut Herbigshagen in Duderstadt ein Spiegel. Dieser ist Teil der EPIZ-Lernskulpturen und ist beschriftet mit: „Hier siehst Du den Menschen, der die Welt verändern kann“.

In diesem Sinne: Einen selbstreflektierten November wünschen

Chris Herrwig und das EPIZ-Team!

Oktober 2022: Solidarisch Kritik geben und nehmen in Südniedersachsen und überall

„Sie hat mich ganz höflich darauf hingewiesen, dass sie das Wort als Betroffene für ein Problem hält und sich davon verletzt fühlt.“ So beschreibt eine Apothekerin aus Hofgeismar (westlich von Göttingen), warum sie den problematischen Namen ihres Ladens änderte und unterstreicht: „Viele gesellschaftliche Probleme kann ich persönlich nicht lösen. Doch hier kann ich aktiv etwas verändern.“

Wie sie sind auch die meisten Wissenschaftler*innen überzeugt, dass Sprache einen immensen Einfluss hat. „Sprache ist eine mächtige Lenkerin, die Denken, Empfinden und Werten [...] vorprägt“ schreibt Prof. Josef Klein. Wenig überraschend bildet unser Sprachgebrauch so auch historisch-gewachsene Machtungleichheiten ab. Dies zeigen sehr eindrucksvoll Prof. Susan Arndt sowie die Journalistin Nadja Ofuatey-Alazard in ihrem Buch „(K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache“ – das steht natürlich auch in unserer gut sortierten EPIZ-Bibliothek zur Ausleihe.

Dort, wie an vielen anderen Stellen, wird auch auf die Problematik des Begriffs „Entwicklung“ verwiesen: Das westlich-geprägte Konzept und die meist damit verbundenen Vorstellungen von „Modernisierung“ sind bis heute eng verknüpft mit kolonialen Kontinuitäten und den damit einhergehenden Machtasymmetrien. Dabei sind wir uns doch heute fast alle einig, dass wir mit Blick auf globale Ungleichheiten viel mehr verwickelt als entwickelt sind. Damit rücken eher Begriffe wie Solidarität und das gemeinsame Streben nach (globaler) Gerechtigkeit in den Vordergrund.

Hier knüpfen auch aktuelle Debatten innerhalb des Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen an: Auf der kommenden für alle offenen Landeskonferenz „geht es um ganz Grundsätzliches: Ist die aktuelle Entwicklungspolitik noch angemessen in Zeiten der vielfachen weltweiten Krisen? Ist „Entwicklung“ noch das richtige Konzept angesichts dekolonialer Kritik? Und wie ist es möglich, sich für eine gerechte, friedliche und nachhaltige Welt zu engagieren?“

Vielleicht findet sich das „Gute Leben“ eher beim entspannten Genuss eines Einbecker Bieres in netter Gesellschaft am Wendebach-Stausee als auf einer Yacht vor den Bahamas? Vielleicht ist uns die Ermöglichung eines Lebens in Würde für alle Lebewesen weltweit wichtiger als das Privileg auf Kosten anderer und der Natur zu leben? So wie die „Apotheke mit Herz“ nicht verletzt sondern heilt und die deutsche Band „Electric Callboy“ nicht nur ihren problematischen Namen änderte, sondern den begleitenden Prozess zusammen mit ihren Fans (selbst-)kritisch reflektiert.

In diesem Sinne: Einen elektrisierenden Oktober „mit Herz“ wünschen
Chris Herrwig und das EPIZ-Team!

September 2022: Südniedersachsen - Eine Welt, in der viele Welten Platz haben!?

„Das Leben in all seiner Fülle ausschöpfen, den Kontakt zur Natur suchen, sie zu verstehen und mit ihr in Harmonie zu leben. Essen im Überfluß, ein Dach überm Kopf und keine Sorgen zu haben.“ - Klingt erstrebenswert, oder? Mit diesen Worten beschreibt Patricia Gualinga, Sprecherin der Gemeinschaft von Sarayaku aus dem Amazonasgebiet für den Deutschlandfunk das „Sumak Kawsay“ (Gutes Leben).

Ähnlich klingt es bei vergleichbaren (indigenen) Philosophien wie dem „Ubuntu“ der Zulu und Xhosa im südlichen Afrika, dem „Pachamama“ der Quechua und Aymara in den Anden, dem „Sankofa“ der Akan im westlichen Afrika, dem Demokratischen Konföderalismus der kurdischen Bewegung in Rojava und Co, dem „Kawaida“ des Black Freedom Movements oder dem „Zapatismo“ in Mexiko.

Im Angesicht der zahlreichen multiplen Krisen (Klima, Umwelt, globale Gerechtigkeit…) wird immer deutlicher, dass sich unsere Gesellschaften grundlegend verändern müssen. Starke Stimmen finden sich dafür zuhauf. Eine kommt von Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt und diese war auch auf dem vergangenen Weltweitwissen-Leitkongress für Globales Lernen deutlich vernehmbar: Wir brauchen dauerhafte und global durchhaltbare Lebens- und Wirtschaftsweisen. Von denen sind wir aktuell im Bezug auf die wichtigsten Felder Energie, Klima, Ressourcen oder Ökosysteme meilenweit entfernt.

Es braucht demnach tiefgreifende und nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen. Dafür sind insbesondere unsere Haltungen und Lebensweisen verantwortlich. Um diese zu reflektieren und zu transformieren müssen wir allerdings nicht (nur) in den Globalen Süden schauen: Auch bei uns gibt es zarte Pflänzchen für sozial-ökologischen Kulturwandel: Sei es beispielsweise der „Utopische Freiraum K20“ in Einbeck, die (subkulturellen) Göttinger Vereine „Flause“ und „Peloton“, das freie Theater „boat people project“, die migrantisch-geprägten „Internationalen Gärten“ sowie die Zukunfts-Werkstatt im Haus der Kulturen, die Organisator*innen des „African Liberation Day“ und das „BIPoC-Kollektiv“ in Göttingen oder der Lebens- und Lernort „gASTWERKe“ im Süden des Landkreises.

Es gibt sie also auch bei uns: Eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Wenn es nach uns geht, darf dieses südniedersächsische „Pluriverse“ gerne noch größer und vielfältiger werden.

In diesem Sinne: Einen bunten September – nicht nur Dank des einsetzenden Herbstes - wünschen

Chris Herrwig und das EPIZ-Team!

Juli/August 2022: Wir fragen uns, was ist „fair“? In Südniedersachsen und überall

Wie schön wäre es, wenn „Fairer Handel“ uns endlich globale Gerechtigkeit bringen würde. Wie gerne würden wir tagtäglich im wunderbaren Göttinger Weltladencafé oder einem der vielen verwandten Läden im Umland einkaufen und uns ansonsten nicht mit Armut, Hunger und Ausbeutung weltweit beschäftigen zu müssen. Laut einer Studie des Forum Fairer Handel gab jede vierte befragte Person an, regelmäßig fair gehandelte Produkte zu kaufen – das sind doch gute Nachrichten, oder?

Viele haben Zweifel, auch der Philosoph Slavoj Žižek. Er verweist in einem sehr empfehlenswerten Beitrag auf problematische Dynamiken. Dazu zählt, dass unreflektierter und unkritischer „ethischer“ Konsum das ausbeuterische System eher stützt: Er kann dazu beitragen einigen Produzent*innen ein besseres Auskommen zu ermöglichen. Dadurch verhindert er aber eventuell die Umstrukturierung globaler Handelsbeziehungen als Ganzes. Drastisch formuliert Žižek angelehnt an Oscar Wilde: „Die schlimmsten Sklavenhalter*innen sind diejenigen, die nett zu ihren Sklav*innen sind.“

Das Unternehmen „fairafric“ wirbt damit, dass die Produktion der Schokolade nicht wie üblich in Europa, sondern in Ghana stattfindet. Damit bleibt ein größerer Teil der Wertschöpfung als üblich im Ursprungsland – jedoch weiterhin weniger als die Hälfte. Wir und andere fragen uns: Ist dafür die Bezeichnung „superfair“ gerechtfertigt, die das Unternehmen auf die Schokoladen druckt?

Der Begriff „fair“ ist nicht geschützt, worauf die Guerilla Aktion „Agraprofit“ schon 2012 eindrucksvoll hinwies – mit einem Marktstand der Spottpreise anbot, die fair waren - für die Konsument*innen.

Um breiten- und tiefenwirksam zu sein muss der Faire Handel flankiert werden von Kampagnenarbeit, wie sie neben den Weltläden beispielsweise die Initiative Lieferkettengesetz betreibt: Sie kämpft für eine EU-weite Regelung von Arbeits- und Produktionsbedingungen. Andere, wie die Vereine „Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung“ oder „Germanwatch“ setzen zusätzlich auf transformative Bildungsarbeit, Informationsveranstaltungen und politische Lobbyarbeit.

Davon lassen wir uns gerne inspirieren: Während wir im anstehenden Sommer das vorzügliche „Fair CoCo“-Eis in der Göttinger Nikolaistraße schlemmen oder auch andere faire Produkte aus dem EPIZ-Einkaufsführer „Gö Fair“, wollen wir gerne noch mehr Reflexionsgespräche über die Transformation des globalen Handelsregimes führen. Sicherlich auch eine prima Vorbereitung auf die Faire Woche, die im September auch wieder in Göttingen und Umgebung das Thema Fairer Handel sprichwörtlich in alle Munde bringen will. Beiträge zum Veranstaltungsprogramm können übrigens noch bis zum 17. Juli eingereicht werden :)

Einen guten – nein, einen superguten! - Sommer wünschen

Chris Herrwig und das EPIZ-Team!

Juni 2022: Es ist mehr als genug Nahrung für alle da – in Südniedersachsen und überall

Im Hintergrund läuft elektronische Musik, im Vordergrund schnippeln zahlreiche junge und nicht mehr ganz junge Menschen gerettete Lebensmittel und gesprochen wird unter Anderem über Ernährungssouveränität und Land Grabbing: An vielen Orten finden immer wieder sogenannte Schnippeldiskos statt, auch in Göttingen beim Westfest auf dem Peloton Gelände an der musa.

Vielen hier ist bewusst, dass etwa ein Zehntel der fast acht Milliarden Menschen weltweit hungert, trotz verfügbarer Nahrung für ca. zehn bis zwölf Milliarden. Die Nahrungsmittelverteilung heute unterscheidet sich kaum von der aus der Kolonialzeit: Besonders aus dem Globalen Süden werden Rohstoffe exportiert und im Norden zu Geld gemacht.

Nicht zuletzt auch im „Fleischland Niedersachsen“, wo wertvolle Nahrung tagtäglich an etwa 2,5 Millionen Rinder, 8 Millionen Schweine und knapp 86 Millionen Hühner verfüttert wird. Vieles davon kommt aus dem Globalen Süden über Europas führenden Importhafen für Futtermittel in Brake an der Weser hierher.

Gegen dieses Ernährungsregime regt sich Widerstand: Wie viele andere auch fordert die Slow Food Youth mit ihrem Göttinger Ableger faire Wertschöpfungsketten im Rahmen der Kampagne #OurFoodOurFuture. Ähnlich positioniert sich der Ernährungsrat Göttingen für Soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit und Krisenbeständigkeit. Kleinbäuer*innen brauchen Zugang zu Land, Wasser und Saatgut sowie machtsensible Handelsabkommen und eine gerechte Förderpolitik – wie vom International Peasants’ Movement La Via Campesina oder auch der Nyéléni-Bewegung für Ernährungssouveränität gefordert.

Über solche Ansätze lässt sich vortrefflich in öffentlichen Gemeinschaftsgärten diskutieren, zum Beispiel in den Internationalen Gärten in Göttingen. Während hier im Hintergrund Bienen summen und im Vordergrund Menschen mit vielfältigen Identitäten zusammen Obst und Gemüse pflanzen wird deutlich: Ein sozial-ökologisches Ernährungssystem ist möglich.

Einen satten und geschmackvollen Juni wünschen

Chris Herrwig und das EPIZ-Team!

 

Mai 2022: Eine globalisierte Welt braucht vielfältige und machtkritische Geschichte(n) – in Südniedersachsen und überall

Zahlreiche rot-schwarz-grüne Fahnen der Bewegung eines freien und vereinten Afrikas werden geschwenkt, von Transparenten grüßt der Freiheitskämpfer T homas Sankara und in Redebeiträgen wird Imperialismus angeprangert: Das geschieht nicht nur in Bamako/Mali, Accra/Ghana oder Lagos/Nigeria sondern in Göttingen im Mai 2021. Anlässlich des African Liberation Days zogen 200 Menschen durch die Innenstadt. Sie zeigten eindrucksvoll: Südniedersachsen ist mehr als die Gebrüder Grimm, Bismarck oder Johann Carl Friedrich Gauß.

Dennoch bekommen Geschichten wie die von Dr. Chicgoua Noubactep, dem in Kamerun geborenen langjährigen Ortsbürgermeister von Rittmarshausen im Landkreis Göttingen (bis 2021), aufgrund von bestehenden Machtstrukturen viel zu selten Raum. Darauf weist unter Anderem die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem millionenfach geklickten Beitrag „The danger of a single story“ hin. Neben ihr stellen viele andere, wie beispielsweise die Neuen deutschen Medienmacher*innen, die entscheidenden Fragen: Welche Geschichten werden erzählt? Wer erzählt? Wer wird gehört?

BBQ – Der Black Brown Queere Podcast“ findet darauf klare Antworten: Hier
liefern der in Göttingen aufgewachsene Dominik Djialeu und sein Co-Host Zuher Jazmati queere und BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) Perspektiven auf Themen mit gesellschaftlicher Relevanz. Solche spiegeln sich auch im Film „Futur Drei“, in der sich eine postmigrantische Pop-Utopie (Zitat Spiegel) entfaltet. Dank der Schauspielerin Florence Kasumba ist inzwischen auch eine afrodeutsche Ermittlerin im Göttinger Tatort präsent.

Ähnlich steht es um den ersten schwarzen Superhelden im US-amerikanischen Comic-Mainstream: Dessen oscarprämierte Verfilmung „Black Panther“, bei der auch Florence Kasumba mitwirkte, thematisiert unter anderem die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen auf dem afrikanischen Kontinent und die Frage nach globaler Solidarität mit Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen.

Mit diesen Themen beschäftigen sich in Göttingen intensiv das BIPoC-Kollektiv sowie die lokalen Organisator*innen des bereits oben erwähnten African Liberation Day – der auch in diesem Jahr wieder weltweit und auch in Südniedersachsen am 25. Mai begangen wird. Vorher - am 10. Mai – veröffentlicht außerdem die Vernetzung „Göttingen Postkolonial“ ihren neuen Stadtrundgang.

Einen Mai voller machtkritischer und diskriminierungssensibler Reflexionen wünschen

Chris Herrwig und das EPIZ-Team!

 

April 2022: #StandWithUkraine und #leavenoonebehind

Wir können nichts tun ohne Optimismus“ schreibt die Bürgerrechtlerin Angela Davis mit Blick auf Anti-Kriegs-Proteste. In diesem Sinne fragen wir uns gemeinsam mit unserm Dachverband VENRO: Wie kann eine angemessene Haltung zur humanitären Katastrophe in Europa aussehen?

Das Leid in der Ukraine bewegt uns sehr. Gleichzeitig gehen unsere Gedanken auch nach Tigray/Äthiopien, in den Jemen, den Kongo, nach Mali, Sudan und Südsudan, Syrien, Kurdistan und nach Afghanistan. In vielen Teilen der Welt finden blutige Konflikte statt. Bei fast allen sind auch europäische Akteur*innen beteiligt und europäische Firmen verdienen mit. Darauf weist das transnationale Netzwerk Afrique Europe-Interact (AEI) hin.

Mit dem in Göttingen ansässigen Roma Center und vielen anderen Organisationen kritisiert AEI auch in diesem Zusammenhang die rassistische Ungleichbehandlung von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen und in der medialen Wahrnehmung: Viele Berichte verweisen auf rassistische Diskurse rund um zivilisierte und unzivilisierte Kriegsopfer.

Dabei ist Krieg mit Abstand die größte Fluchtursache, egal ob in Kiew, Bamako oder Mek’ele. Darauf verweist auch das südniedersächsische Museum Friedland. Jeder Krieg bringt unsägliche Folgen mit sich, unter Anderem anschließende Nahrungsmittelknappheit: Auf Krieg folgt Hunger. Dies wird jetzt besonders befürchtet, da Russland und die Ukraine große Getreideexporteur*innen sind. Von den Lieferungen abhängig sind insbesondere materiell arme Gebiete in Afrika und Asien, wie der kriegsgebeutelte Jemen oder der Libanon.

Sanktionen sollten die Machthabenden treffen. Menschen auf der Flucht brauchen unsere direkte Unterstützung. Als lokale Koordinierungsstelle fungiert dafür unter Anderem das Migrationszentrum in Göttingen. Spenden und praktische Hilfe wie Übernachtungsplätze vermitteln zahlreiche Organisationen der Region, unter Anderem „Rock for Tolerance e.V.“ in Hannoversch Münden.

Die breite Solidarität vermittelt – ganz im Sinne von Angela Davis – Optimismus und die Hoffnung auf bessere Zeiten. Daher summen wir dann doch mit den Musikern Kummer und Fred Rabe „Fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut“.

Einen optimistischen April wünschen Chris Herrwig und das EPIZ-Team!

März 2022: Fallen und Fliegen im sich wandelnden Südniedersachsen

Fallen, schreibt der Philosoph Báyò Akómoláfé, könnte sehr gut auch fliegen sein – wenn wir nur die Koordinaten „oben“/“unten“ loswerden und uns freier im Raum bewegen: Das Fehlen von Koordinaten, von klaren Zielen und Gewissheiten, nehmen wir viel zu oft als Problem wahr. Wir tendieren dazu, Ungewissheiten und Widersprüche kaum aushalten zu können. Dabei müssten wir nicht darüber stolpern. Statt zu taumeln und zu fallen könnten wir – fliegen.

Dazu bräuchte es einen radikalen Kulturwandel: Einlassen aufs Treiben lassen, auf unplanbare Wege und auf Pfade, die bisher kaum erforscht und kaum beschritten wurden. Einlassen auf radikale Brüche mit unseren heutigen imperialen Lebensstilen, wie sie die Wissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen beschreiben. Wie viele andere weisen sie darauf hin, dass wir nicht um eine „sozial-ökologische Transformation“ herumkommen werden – hin zu einer solidarischen Lebensweise.

Dabei unterstützen kann uns das Lernen, die Welt aus vielen Perspektiven „lesen“ zu können: Wie wir Dinge wahrnehmen und welche Annahmen dahinter stecken, ist uns viel zu selten bewusst. So entgehen uns beispielsweise indigene Wissensschätze – was nicht zuletzt an der fehlenden Aufarbeitung kolonialer Kontinuitäten liegt.

Ein Schritt dahin wurde am 9. Februar 2022 vollzogen: An diesem Tag übergab die Universität Göttingen menschliche Überreste aus ihren Sammlungen an hawaiianische Nachfahren – so wie auch Institutionen in Bremen, Jena, Berlin und Wien. 58 iwi kūpuna - wie die Gebeine der Ahnen in Hawaii genannt werden - kehren so wieder zurück in ihre Heimat. Diese sogenannten Restitutionen lassen mindestens Anklänge eines Kulturwandels erahnen.

Derlei dekoloniale Momente finden viel zu selten den Weg auf die großen Titelseiten. Gut, dass es aber Journalist*innen wie Sham Jaff und ihren Newsletter „What happened last week“ gibt: In diesem finden marginalisierte Stimmen weltweit Gehör. Wer dazu noch die passende Musik braucht, der sei auf die dazugehörige Playlist „Decolonize Weekly“ hingewiesen :)

Zu deren Klängen lässt es sich vortrefflich fliegen – ohne die hinderlichen Zwänge von Koordinaten, die uns in weitere multiple Krisen leiten anstatt in die Richtung des Guten Lebens für Alle.

Einen guten Frühlingsstart wünschen Chris Herrwig und das EPIZ-Team!